Der Kampf ums Recht ist manchmal ein schmaler Grat zwischen berechtigtem Anliegen und schlichter Rechthaberei. Die Grenze ist nicht objektiv bestimmbar und beinhaltet stets eine subjektive Bewertung der Betroffenen: was für den einen eine schlichte Lappalie ist, bedeutet für den anderen eine massive Einschränkung seiner Rechte. Ich als Rechtsanwalt mache die Übernahme grenzwertiger Mandate vor allem von einer Frage abhängig: gibt es rechtliche Argumente, an die ich glaube?
Herr L. als Reformer des katholischen Glaubens
So war es auch im Fall von Herrn L. Ich war damals noch angestellter Rechtsanwalt und bekam den Fall zugewiesen, weil andere Kolleginnen und Kollegen den rechthaberischen Charakter des Anliegens erkannten. Sie befürchteten offensichtlich ein schwieriges Mandatsverhältnis. Was war passiert? Herr L. verstand sich als Missionar. Er hatte seine eigene Art des katholischen Glaubens entwickelt. Er wollte nicht weniger als die katholische Kirche reformieren. Dies tat er mit Verve: er schrieb ein Buch und verlegte es selber. Und er gestaltete Schmuck aus Edelsteinen, der für seine Art des Glaubens stehen sollte und den er zum Selbstkostenpreis an andere Gläubige verkaufte.
Der Ort des Geschehens: Das Kloster Maria Laach
Und es war ihm Ernst: um mit anderen Katholiken in Kontakt treten zu können, begab er sich regelmäßig mit einer Staffelei und einem Klapptisch zum Kloster Maria Laach. Das Kloster Maria Laach verfügt über einen eigenen Parkplatz. Zwischen dem Kloster und dem Parkplatz verläuft eine Landstraße. Die Besucher erreichen das Klostergelände durch eine Unterführung, die unter der Landstraße eine sichere Verbindung schafft. Am Eingang der Unterführung baute Herr L. nun seine Staffelei nebst Klapptisch auf und warb für sein Buch, für seinen Schmuck und für seine Art des Glaubens.
Der Missionar erregt das Missfallen des Klosters
Meine Kenntnisse zur katholischen Religion sind überschaubar. Nach meinem Verständnis tat Herr L. indessen genau das, was der Sohn des Heiligen Geistes einst seinen Jüngern aufgab. Er trat für den katholischen Glauben ein – wenngleich mit kritischem Geist und kritischer Haltung. Die Mönche des Klosters hatten diesbezüglich eine kurze Zündschnur. Es dauerte nicht lange, bis die Mönche Herrn L. mit bestimmendem Auftritt des Platzes verwiesen.
Der kritische Geist des Herrn L.
Der kritische Geist von Herrn L. gab sich damit nicht zufrieden. Er informierte sich. Und er fand bald heraus, dass die Unterführung ebenso wie der Straßenkörper und die Böschung dem Land Rheinland-Pfalz gehörte. Es existierte lediglich ein Vertrag, der das Kloster zur laufenden Instandhaltung der Unterführung verpflichtete. Damit war für Herrn L. die Sache klar: das Kloster durfte ihn nicht des Platzes verweisen. Also begab er sich erneut zur Unterführung, diesmal um zu bleiben.
Der Streit um Staffelei und Klapptisch eskaliert
Dies alles konnten natürlich die Mönche des Klosters nicht ahnen. Es hat nur ähnlich lange gedauert, bis Herr L. sich erneut einer Abordnung von Glaubensbrüdern aus dem Kloster gegenüber sah. Deren Auftreten soll nicht in allen Belangen christlichen Werten entsprochen haben. Jedenfalls setzten sie Herrn L. massiv unter Druck und forderten ihn auf, den Platz zu räumen.
Herr L. bleibt stur und beharrt auf seinem Recht
Hiervon ließ sich Herr L. aber nicht mehr einschüchtern. Er hatte sich zuvor detailliert bei den zuständigen Behörden informiert und wusste, dass er im Recht war. Das Kloster hatte keine Handhabe, um ihm einen Platzverweis zu erteilen. Also blieb er.
Die Polizei sorgt für “Recht und Ordnung”
Was mich bis heute wundert, ist der dünnhäutige Umgang eines über 900 Jahre alten Klosters und der Institution Kirche mit einem Gläubigen, der sich für Reformen einsetzt. Denn auch das Kloster ließ nicht locker – und rief die Polizei. Was nun passierte, brachte den ganzen Stein erst richtig ins Rollen: die Polizeibeamten machten sich erst gar nicht die Mühe, Herrn L. anzuhören. Die Mönche behaupteten, dass die Unterführung zum Klostergelände gehört und damit war für die Polizei die Messe gelesen: sie forderten Herrn L. zur Räumung auf und drohten ihm unmittelbaren Zwang an. Der Klügere gab nach. Herr L. räumte das Feld.
Unverständnis über Ungerechtigkeit
Trotzdem bohrte sich ein tiefer Stachel in das Rechtsempfinden von Herrn L.. Er fühlte sich ungerecht behandelt. Und er hatte kein Verständnis. Weder für die Polizei, noch für das Kloster. Er konnte nicht nachvollziehen, weshalb ihn die Polizei nicht anhörte und nicht ihm glaubte, sondern dem Kloster. In seiner Auseinandersetzung mit Goliath hatte sich der Freund und Helfer einfach auf die Seite der tradierten Kirche gestellt. Die beiden großen Institutionen – Staat und Kirche – hatten sich aus seiner Sicht gegen ihn verbündet. Sie hatten sein ernstes Anliegen mit Füßen getreten.
Eine Dienstaufsichtsbeschwerde bringt den Stein ins Rollen
Herr L. wollte das nicht auf sich sitzen lassen. Er formulierte eine Beschwerde an das örtliche Polizeipräsidium, die als Strafanzeige behandelt wurde. Daraufhin wurde ein Ermittlungsverfahren gegen die Polizeibeamten eingeleitet wegen “Nötigung im Amt”, also wegen einer Nötigung in einem besonders schwerem Fall gemäß § 240 Abs. 4 Nr. 2 StGB. Natürlich wurde dieses Ermittlungsverfahren ebenso schnell wieder eingestellt. Die Staatsanwaltschaft informierte Herrn L. über die Einstellung und machte ihn auf die Möglichkeit einer Beschwerde gem. § 171 StPO hin.
Die Beschwerde gegen die Verfahrenseinstellung gem. § 172 StPO
Nun wird es juristisch: natürlich machte Herr L. von der Beschwerdemöglichkeit Gebrauch. Und ebenso natürlich wurde seine Beschwerde zurückgewiesen. Herr L. hatte bis hier alles selbst geregelt und die Korrespondenz mit Behörden, Polizei und Staatsanwaltschaft selbst geführt. Gegen die Zurückweisung seiner Beschwerde stand ihm nun allerdings nur noch ein Klageerzwingungsverfahren zum Oberlandesgericht Koblenz offen.
Das Klageerzwingungsverfahren zum Oberlandesgericht Koblenz
Damit war nun Schluss: gem. § 172 Abs. 3 StPO besteht bei einem Klageerzwingungsverfahren die Pflicht, sich von einem Rechtsanwalt vertreten zu lassen. Dieser Umstand führte Herrn L. nun in unsere Kanzlei und schließlich zu mir. Im Rahmen unserer Besprechung merkte ich schnell, dass es Herrn L. aufgrund der tief empfundenen Ungerechtigkeit ums Prinzip geht. Trotzdem sah ich die Notwendigkeit, ihn zu schützen. Ich machte ihn auf die hohen Kosten aufmerksam, die mit unserer Beauftragung einhergehen würdenund zeigte ihm die geringen Erfolgsaussichten seines Anliegens auf. Ganz unabhängig von der juristischen Beurteilung sah ich das hohe Risiko, dass das Oberlandesgericht Koblenz wegen einer solchen “Lappalie” niemals eine Anklage gegen zwei Polizeibeamte zulassen würde.
Meine Empfehlung: Ein Antrag auf Sondernutzungserlaubnis
Ich empfahl Herrn L. stattdessen ein anderes Vorgehen: ich legte ihm nahe, bei der zuständigen Straßenbauverwaltung eine Sondernutzungserlaubnis zu beantragen und hierbei sehr ausdrücklich auf seine Religionsausübungsfreiheit zu pochen. Ich war mir damals sicher, dass man ihm dieses Anliegen bewilligen musste, womit er sein Ziel in jeder Hinsicht erreicht hätte.
Empfehlungsresistente Mandanten
Als Rechtsanwalt ist man es gewohnt, dass Mandanten einem Rat nicht folgen. Ganz so verhielt es sich bei Herrn L. nicht: er hielt meinen Vorschlag für interessant und wollte dem nachgehen. Gleichzeitig wollte er aber auch das Strafverfahren weiterverfolgt wissen. Wie ich eingangs darstellt habe, brauche ich in einem Fall den ich annehme, zumindest den Glauben ein eine tragfähige juristische Argumentation. Ich verabredete mit Herrn L. die Erfolgsaussichten prüfen zu wollen.
Strafbare “Nötigung im Amt”
Tatsächlich gab es einige tragfähige Argumente, mit denen man eine Strafbarkeit der Beamten annehmen konnte. Faktisch hielt ich das Anliegen von Herrn L. trotzdem nicht für durchsetzbar. Er blieb aber bei seiner Haltung. Er verstand meine Hinweise und bedankte sich für diese, wollte aber eine Entscheidung durch das Oberlandesgericht herbeiführen
Das Klageerzwingungsverfahren
Um es abzukürzen: Nein, wir hatten keinen Erfolg beim Oberlandesgericht Koblenz. Unser Erfolg war später ganz ein anderer! Zunächst lehnte das Oberlandesgericht aber eine Entscheidung aus rein formalen Gründen ab: Herr L. selbst hätte ja gar keine Strafanzeige erstattet, sondern nur eine Beschwerde formuliert. Trotz der Behandlung als Strafanzeige durch das Polizeipräsidium und trotz seiner Behandlung als Anzeigenerstatter durch die Staatsanwaltschaft fehle ihm die nach § 172 StPO notwendige Befugnis für eine Klageerzwingung. Aha. Kurzum: wir wiederholten die Strafanzeige, führten das Verfahren erneut durch und verloren dann auch inhaltlich. So hatte ich es befürchtet.
Der Antrag auf Sondernutzungserlaubnis
Es dauerte nun eine Weile, bis ich wieder von Herrn L. hörte. Rund neun Monate nach dem gescheiterten Klageerzwingungsverfahren saß er wieder bei mir im Büro. Und er hatte Neuigkeiten mitgebracht: der alte Fuchs hatte sich mal wieder selbst in die intellektuelle Auseinandersetzung begeben. Er war meinem Rat doch gefolgt und hatte bei der zuständigen Behörde eine Sondernutzungserlaubnis beantragt. Diese hatte seinen Antrag zurückgewiesen. Ein Widerspruch war erfolglos geblieben. Also hatte Herr L. selbst und ohne Rechtsanwalt Klage beim zuständigen Verwaltungsgericht Koblenzeingereicht.
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz
Auch beim Verwaltungsgericht Koblenz bekam Herr L. kein Recht. Seine Klage wurde abgewiesen. Zur Begründung bediente sich das Verwaltungsgericht Koblenz einer seltsamen Argumentation: Weil der Fahrzeugverkehr oben auf der Landstraße durch das Geschehen in der Unterführung nicht tangiert werde, würde das Anliegen des Herrn L. den sogenannten Gemeingebrauch der Straße nicht tangieren. Deswegen sei der Fall nach § 45 LStrG Rheinland-Pfalz zu beurteilen. Daher erfolge die Einräumung von Rechten nach bürgerlichem Recht.
Die Entscheidung als schlechter Witz
Der vermeintliche “Clou”: damit durfte die Behörde ohne Beachtung der Religionsausübungsfreiheit von Herrn L. entscheiden. Ein Taschenspielertrick: Die Religonsausübungsfreiheit gem. Art 4 GG wird schrankenlos gewährt. Einschränkungen der Religionsfreiheit sind zwar möglich, aber nur wegen der sonstigen Gefährdung von Grundrechten Dritter oder von Rechtsgütern mit Verfassungsrang. Es war klar, dass man auf dieser Basis dem Anliegen der Herrn L. eigentlich nichts entgegenhalten konnte. Man suchte – ein weiteres Mal – händeringend nach Gründen, um ihn und seine spezielle Art abblitzen zu lassen. Justitia ohne Binde über den Augen.
An der Ehre gepackt
Ich allerdings war an der Ehre gepackt: ich hatte Herrn L. den Antrag auf Sondernutzungserlaubnis empfohlen und die Entscheidungen zu seinem Nachteil waren eine Farce. Ich bin ein passionierter Jurist und diese Situation ließ mir keine Ruhe. Es ging damals auch für mich um nicht viel weniger, als um meinen Glauben an den Rechtsstaat, in dem Behörden und Gerichte anhand von Normen willkürfreie Entscheidungen treffen.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung
Nicht einmal die Berufung hatte durch das Verwaltungsgericht Koblenz zugelassen. Hierzu muss man wissen, dass man nicht gegen jedes Urteil eines Verwaltungsgerichts Berufung einlegen kann. Vielmehr muss das Verwaltungsgericht die Berufung ausdrücklich gemäß § 124 VwGO zulassen. Geschieht dies nicht besteht nur die Option, gemäß § 124a VwGO die Zulassung der Berufung zu beantragen. Leider haben solche Anträge nur selten Aussicht auf Erfolg. Erschwert wurde die Situation durch die knappe Zeit. Herr L. hatte sich kurzfristig gemeldet in der irrigen Annahme, dass die Frist zur Begründung eines Antrags auf Zulassung der Berufung verlängert werden kann. Allerdings sieht § 124a VwGO keine Möglichkeit zur Fristverlängerung vor. Deswegen und auch wegen fehlender Urteile in vergleichbaren Fällen wurde es ein Schriftsatz mit wenig Technik und viel Herz
Die Zulassung der Berufung durch das Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz
Ich muss gestehen, dass auch deswegen die Entscheidung des OVG Rheinland-Pfalz in Koblenz eine Überraschung für mich war: nach nur zwei Wochen ließ das OVG die Berufung zu! Damit war auch klar, dass man sich in Koblenz den Fall genauer anschauen wollte. Ansonsten hätte man schlichtweg meinen Antrag zurückweisen können
Das Urteil: Herr L. bekommt Recht!
Und so kam es dann auch. Das Oberverwaltungsgericht Koblenz setzte einen Termin zur mündlichen Verhandlung an. Termine beim höchsten Verwaltungsgericht in Rheinland-Pfalz stehen nun wahrlich nicht auf meiner Tagesordnung und so machte sich auf der Hinfahrt eine wohlige Anspannung bemerkbar. Im Termin verflog diese schnell: Der Vorsitzende machte bald deutlich, dass der Senat von dem Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz in etwa so viel hielt, wie ich selbst – nämlich gar nichts. Und er sparte nicht an Schelte gegenüber der Straßenverwaltung ob des untauglichen Versuchs, die Religionsausübungsfreiheit des Herrn L. ohne jede Rechtfertigung zu übergehen. Schließlich gab das OVG Rheinland-Pfalz Herrn L mit Urteil vom 30. November 2015 zum Az. 1 A 10341/15 Recht und hob die Entscheidung aus der ersten Instanz auf.
Ein langer Weg durch die Instanzen
Damit war ein langer Weg für Herrn L. durch die Instanzen zu Ende. Das Kloster hatte ihn schlecht behandelt. Die Polizei hatte ihm nicht geglaubt. Die Staatsanwaltschaft machte mit seinem Anliegen kurzen Prozess. Die Straßenbehörde missachtete seine Grundrechte. Das Verwaltungsgericht gab ihm nicht Recht. Erst beim Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz fand er als Bürger unbefangenes Gehör. Das Oberverwaltungsgericht bestärkte nicht nur seinen Glauben – es gab ihm auch seinen Glauben an den Rechtsstaat zurück und mir das Vertrauen in das Recht.
Recht gehabt und Recht bekommen
Fast wichtiger war mir im Fall von Herrn L. noch folgendes: ich hatte ihm schon im Rahmen unserer ersten Besprechung den Antrag auf Sondernutzungserlaubnis empfohlen und vom Klageerzwingungsverfahren abgeraten. Und ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert!
Ob Herr L. jemals Gebrauch von seinem Erfolg machte, weiß ich übrigens nicht. Nach Jahren mandatierte er mich noch einmal in einer anderen Angelegenheit, die er ebenso engagiert und fordernd betrieb, wie unseren damaligen Fall.
Kein anderer Fall in meiner Karriere steht so sehr dafür, dass der Kampf ums Recht manchmal die Ausschöpfung aller Instanzen erfordert und dass er dann auch nicht vergebens ist. Er steht aber auch für die Ambivalenz, die mit der konsequenten Rechtsdurchsetzung verbunden ist: welches Anliegen ist “berechtigt” und welches Anliegen ist “nachvollziehbar”? Welche Fälle übernehme ich als Rechtsanwalt, und wovon lasse ich lieber die Finger? Was steht hinter einem Fall und dem Anliegen des Mandanten? Und so bleibe ich dabei: Es muss zumindest ein tragfähiges juristisches Argument geben, hinter das ich mich als Rechtsanwalt mit gutem Gewissen stellen kann. Dann kann es sich lohnen zu kämpfen, wenn der Mandant es will.
Im Mai 2022 ist Herr L. verstorben. Ich werde ihn in Erinnerung behalten.
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